d) Maß, Zahl und Proportionen
In den Bauhütten wahrte man das Geheimnis von den Heiligen Maßen, Heiligen
Zahlen und Heiligen Proportionen. Heilig heißt in diesem Fall, dass man diese
Zusammenhänge als kosmisch und damit als göttlich
ansah. Es wurde versucht, sich in die kosmische
Harmonie einzufügen.
Der Hauptzweck, für den ein Tempel (vorchristlich)
gebaut wurde, war es, die Götter oder Kräfte in der
Natur anzuziehen, denen er geweiht war. Das geschah
durch die Anwendung des Prinzips der sympathischen
Resonanz oder der Anziehung des Gleichartigen. Jeder
Tempel wurde so eingerichtet, dass er symbolische
Bezüge zu der entsprechenden Gottheit einschloss. Er
wurde entsprechend der Jahreszeit und dem Himmels-
körper ausgerichtet, der mit dieser Gottheit
korrespondiert, und ihre charakteristischen Zahlen
wurden auch in Dimensionen des Gebäudes ausgedrückt.
Bestimmte Zahlenmuster, jedes mit seinen entspre-
chenden musikalischen und geometrischen Typen,
repräsentieren gewisse Aspekte der universellen Energie. Deshalb waren sie auch,
nach der Theorie der rituellen Magie, in der Anrufung dieser Energie wirksam.
Dieses alte Wissen wurde nicht schriftlich überliefert, weil man wusste, dass es zu
jeder Zeit neu verstanden werden muss - rational und intuitiv zugleich. Die alten
Baumeister legten ihren Konstruktionen drei Dinge zugrunde:
1) Zeitliche und räumliche Bezüge zu Kosmos und Erde in der Wahl von Ort und Zeit
für bestimmte Tätigkeiten.
2) Maße und Maßverhältnisse setzten sie zu Erde,
Mensch und Kosmos in Beziehung.
3) Eine Geometrie, in der sich eine Form aus der
anderen entwickelte und entsprechend auch
die Maße und Maßverhältnisse
Das esoterische Wissen um Maß, Zahl und Proportion
ist älter als die Lehre des Pythagoras (geb. 570 v.
Chr.). Er gründete einen strengen Orden und eine auf
Harmonie, als Wesen der Seele, wie des Alls basie-
rende Religion. In Zahl und Harmonie erblickte man
sowohl den Schlüssel zum Verständnis von Kosmos
und Natur, als auch als Grundlage der Sittlichkeit und
des richtigen Handelns, einschließlich der ärztlichen
Praxis.
Von hier ist die Bedeutung der Zahlenlehre, die
mathematische Struktur der Harmonie und Musik der
Pythagoreer zu verstehen. Daher hatte die Musik eine
bevorzugte Stellung in ihrem Leben und für Heilver-
fahren. Orpheus dürfte das Pseudonym für
Pythagoras sein, der mit seiner Harfe selbst Steine
zur Rührung brachte. Einige Kapitelle aus dem Chor
des größten mittelalterlichen Klosters in Cluny, Burgund, stellen die acht Töne und
auch einen Harfenspieler dar. Möglicherweise wollte der Künstler die Harmonie von
Bauwerk, Musik und Gregorianischem Choral darstellen. Die Harmonie von
musikalischen Proportionen, wie Terz, Quint, Oktav usw. spiegelten auch die
architektonischen Proportionen wider.
Die "Heilige Schnur" der Bauleute hatte 13 Knoten und 12 Abstände. Damit bildete
man das rechtwinkelige Dreieck mit den Seitenlängen (und Knotenzahl) 3 - 4 – 5.
Das Einheitsmaß einer (gotischen) Kirche wurde aus einem bestimmten Dividenden
des geographischen Breitengrades gebildet und es entstand dadurch die "Elle von
Chartres", die "Elle von Wien" usw. Louis CHARPENTIER schreibt in seinem Buch Die
Geheimnisse der Kathedrale von Chartres: "Das Maß war nicht beliebig, es war der
kosmischen Konstellation entnommen. Auch das Seil war kein Werkzeug des
Zufalls. Es diente zum Aufreißen der Leitfiguren, jener ins Sichtbare projizierten
Sphärenmusik, deren Rhythmen das Weltgesetz widerspiegelt."
Harmonische und gerade Vielfache dieser Elle bildeten das Verhältnis von Breite,
Länge und Höhe des Gotteshauses. Durch diesen geographisch-terrestrischen und
kosmischen Bezug kommt an diesem Ort Himmel und Erde in Resonanz - es sind jene
Wellen, die Körper und Seele zum Schwingen bringen können.
Immer wieder wurde der Goldene Schnitt als harmonische Proportion verwendet.
Dieser stellt die mathematische "Trennungslinie" zwischen Chaos und Ordnung dar.
Da der Mensch, als "Offenes System", sich ebenfalls zwischen Chaos und Ordnung
befindet, erlebt der Mensch den Goldenen Schnitt als harmonisierend, wohltuend
und schön. Absolute Symmetrie ist in der Natur nicht zu erwarten. Das wurde
ursprünglich auch beim Bauen beachtet. Auch das Auge sucht beim Sehen nach
Asymmetrien und ermüdet an zu regelmäßigen Formen. Nigel PENNICK bezeichnet
die Heilige Geometrie als den symbolischen Code, der alle Bereiche des Materiellen,
des Lebendigen und des Toten, des Natürlichen und Künstlichen mit seelischen und
geistigen Ebenen verbindet.
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