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Sonnen- und Lebenslauf

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Im Verständnis archaischer Menschen spiegelt sich im Jahreslauf der Lebenslauf, da in jedem Teil das Ganze liegt. Die esoterische Tradition spricht in diesem Zusammenhang vom Pars-pro-toto-Prinzip. Heute ist dieses Gesetz auch von der Wissenschaft gut belegt, etwa wenn Genetiker davon ausgehen, dass in jeder einzelnen Zelle die Information für den ganzen Menschen liegt. Aus der Chaosforschung kennen wir die Abbildungen des sogenannten Apfelmännchens, der Mandelbrotmenge. Das Faszinierende an dieser Figur ist, dass in jeder Einzelstruktur wieder das Ganze zu finden ist. In der Naturheilkunde gehen wir inzwischen schon sehr vertraut mit diesem Wissen um, wenn wir über die Reflexzonen des Fußes oder Ohres den ganzen Körper behandeln. Eine technische Analogie wären die dreidimensionalen Laserhologramme, wo sich aus jedem Bildteil die ganze Darstellung rekonstruieren lässt.

 

Nach diesem Gesetz enthält jede kleine Einheit das Ganze, der Tag also die Woche, den Monat, das Jahr, das Leben und die Summe der vielen Leben bis zur Freiheit aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Folglich muss sich auch das Mandalagrundmuster in all diesen Strukturen wiederfinden lassen. Tatsächlich kann man aus der Art, wie jemand seinen Tag beginnt, schließen, wie er sein Leben angeht. Auch sprechen wir vom Lebensabend und beziehen dabei den Tag aufs Leben.

Als Anfangspunkt des profanen Jahres dient im größten Teil der Welt der erste Januar, was in etwa der Wintersonnenwende, dem Tiefpunkt des Jahres, entspricht. Weihnacht ist die tiefste Nacht und damit der zentrale Wendepunkt im Jahr. Diese Umkehr findet statt, lange bevor wir Menschen sie wahrnehmen, ähnlich wie wir auch die Empfängnis selten bewusst bemerken. Nie ist mehr Nacht als in dieser. In diese tiefste heilige (= vollkommene) Nacht und größte Dunkelheit fällt die Geburt des Lichtkeimes. Das entspricht der Empfängnis, bei der die Seele in die Dunkelheit der Körperlichkeit eintaucht, ohne dass die Eltern von ihrer Ankunft wissen. Von nun an wächst das Licht gleichsam im geheimen. Alles bleibt noch weitgehend in Dunkelheit gehüllt, unmerklich nehmen die Tage aber bereits zu.

Mit dem Frühlingsäquinoktium, das der Geburt und dem Sonnenaufgangentspricht, ist die Tagundnachtgleiche erreicht. Nun wird der Siegeszug des Lichtes allen sichtbar. Die Sonne gewinnt an Kraft, das äußere Wachstum beginnt. Über die Pubertät, die dem jungen Morgen des Lebens entspräche, geht der Aufstieg der Lichtkräfte über die Adoleszenz, den Vormittag des Lebens, bis zum Höhepunkt des Tages und Jahres.

Mittag und Sommersolstitium zeichnen sich durch den höchsten Stand der Sonne und das intensivste Licht aus. Es ist der längste Tag, und das stärkste Licht beleuchtet diesen Höhepunkt, die Klimax (Übergang vom schwächeren zum stärkeren Ausdruck, vom weniger Wichtigen zum Wichtigeren) des Jahres und des Lebens. Es ist Wendezeit, und das entspricht einem grundlegenden Wechsel. Bisher ging es hinauf, ab jetzt geht es hinab im Lichtkreislauf, auch wenn das noch lange nicht zu merken ist. Der Wechsel der Richtung ist aber unwiderruflich, zur Krise im negativen Sinn kann man es machen, Lebensmitte ist es von allein. Das mag westlichen Menschen ungebührlich früh erscheinen, aber es heißt ja andererseits Wechseljahre und nicht Wechseltage. Wir bekommen reichlich (Umstellungs-) Zeit, diese Änderung der Lebensrichtung nachzuvollziehen. Wie Weihnachten der Tiefpunkt, ist das Sommersolstitium der Höhepunkt des Jahres.

Nun beginnt die Erntezeit; die große Kraft der Sonne spiegelt sich in den prallen reifen Früchten der Natur. Die bei uns unbeliebten Wechseljahre sind der wirkliche Höhepunkt des Lebens, die Zeit der Ernte und des Genusses der Früchte des Lebens. Mit ca. 50 Jahren sollte ein wirklicher Wechsel stattfinden, wo alles, was bisher gedacht oder gearbeitet wurde, auf den Kopf gestellt werden sollte. Ab nun sollten wir wirklich mit etwas völlig anderem beginnen. Tun wir’s nicht, so entstehen deswegen im höheren Alter alle Demenzerkrankungen. Wären wir nicht immer der Zeit voraus, irgendwo weit in der Zukunft verloren, könnten wir diese Phase in vollen Zügen genießen. Erst im frühen Herbst kann jenes ruhevolle Genießen stattfinden, nach dem man sich vielleicht ein Leben lang gesehnt hat. Es darf bis zum Herbstäquinoktium anhalten. Genuss aber ist nur die eine Seite, auf der anderen bedeutet Ernte auch das Sterben der Ähre. Sie verdorrt auf dem Feld oder wird gedroschen, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Verschenken ihrer Körner als Samen für neue Pflanzen oder als Nahrung für andere Wesen opfert die Weizenpflanze, ihren besseren Teil und erreicht damit für ihn Ewigkeit im Kreislauf des Lebendigen. Die überflüssig gewordene Ähre aber wird später untergepflügt, um auch so noch zum Grundstoff für neues Leben zu werden - beides Sinnbilder für das notwendige Aufgeben des Ego.

Ab dem Punkt der Herbsttagundnachtgleiche fällt das Licht gegenüber der Dunkelheit zurück, die Tage werden kürzer als die Nächte. Es geht auf den Lebensabend zu, wobei der Sonnenuntergang und die Abenddämmerung sehr schöne Zeiten sind. Abnehmen ist nun nicht nur körperlich, sondern auch im übertragenen Sinn gefordert. Ballast will abgeworfen werden - es geht ums Abschiednehmen. Im späten Herbst ist in der Natur Abscheiden und Loslassen das beherrschende Thema. Das Licht wird immer schwächer und häufig auch das Augenlicht; die äußeren Sinne lassen nach. Die Farben leuchten im Herbst zwar noch einmal im Außen kurz auf, aber nur, um sich dann definitiv zurückzuziehen. Zuerst tritt Grau in den Vordergrund und erfüllt viele mit Grauen. Dann kommt Weiß hervor, die vollkommene Farbe, die alle anderen in sich enthält, und beginnt die Szene zu beherrschen, indem sie alles zudeckt. Zum Abnehmen des äußeren Lichtes kontrastiert das Anwachsen des inneren. War von der Empfängnis bis zur Midlife-Crisis Wachsen das Thema, wird danach (Gesund-)Schrumpfen zur Aufgabe, bis am Ende nur noch Wesentliches übrigbleibt.

Den Schluss und Anfang zugleich bildet wieder die dunkle Mitternacht, das Wintersolstitium. Es ist Tod und Empfängnis in einem, je nachdem, aus welche Richtung wir die Tür benutzen.